Kapitel 3

Die Technische Hochschule bis zum Ersten Weltkrieg (1885-1914)

Ferdinand Lehn: Übungszeichnungen aus dem Bauingenieurstudium an der Technischen Hochschule Karlsruhe, 67,9 × 43,5 × 4,0 cm, Halbledereinband. KIT-Archiv 28016/31.

Unverzichtbarer Bestandteil des Studiums an der Polytechnischen Schule und der Technischen Hochschule Karlsruhe war das Anfertigen technischer Zeichnungen, wie sie hier gezeigt werden. Die nötigen Fertigkeiten wurden den Studierenden durch so unterschiedliche Lehrveranstaltungen wie Freihandzeichnen, Plan- und Terrainzeichnen oder Beleuchtungslehre und Perspective vermittelt. Hinzu kamen umfangreiche Übungen in Darstellender Geometrie. Auch das Schönschreiben der Zeichnungstitel hatte als Kalligrafie einen Platz im Lehrplan. Diese Ausbildungsinhalte waren Gemeingut der Ingenieurfächer einschließlich der Architektur. Der Bauingenieurstudent Ferdinand Lehn (*1871) ließ seine während der Jahre 1891 bis 1893 erstellten Bauzeichnungen in einem repräsentativen Halbledereinband zusammenstellen. Die Übungsarbeiten hatten für ihn also einen dauerhaften Wert. Seine Zeichnungen geben eine Übersicht der Teilfächer, in die sich das Bauingenieurstudium gliederte: Brückenbau, Eisenbahnbau, Wasserbau, Straßenbau und Vermessung. Überdies ist zu sehen, dass auch die angrenzenden Disziplinen Architektur und Maschinenbau berührt wurden. Auf den einzelnen Blättern erscheinen mit ihren Prüfvermerken — den sogenannten Testaten — die seinerzeit in der Abteilung für das Bauingenieurwesen wirken[1]den Professoren: Reinhard Baumeister (1833–1917) im Städtebau, Friedrich Engesser (1848–1931) im Brücken- und Eisenbahnbau, Matthäus Haid (1853–1919) im Vermessungswesen und Kosmas Sayer (1851–1899) im Wasserbau sowie der Architekt Adolf Weinbrenner (1836–1921) und der Maschinenbauer Karl Keller (1839–1928). kn

Bilder

Fachkommentar

Zeichnungen im Ingenieurwesen

Das Album von Ferdinand Lehn verdeutlicht die Vielfalt des Bauingenieurstudiums in den 1890er Jahren. Es umfasst idealtypische Entwürfe von Maschinenelementen ebenso wie lokalisierbare Projekte für einen Mühlkanal oder die Trassierung einer Eisenbahnlinie. Die Spannbreite der Darstellungstechniken reicht von Schnittzeichnungen über geometrische Analysen statischer Phänomene bis zu schattierten Gebäudeelementen und kolorierten Landschaftsdarstellungen. Holz, Bruchsteine, Backsteine, Grünflächen, Wasser, Erdschichten: All das wird akribisch wiedergegeben. Menschen allerdings sind nirgends zu sehen, auch nicht als dekorative Beigabe. Inhaltlich dokumentieren Lehns Zeichnungen die Bedeutung von Infrastrukturmaßnahmen in der Hochindustrialisierung: Neben dem allgegenwärtigen Eisenbahnbau spielte die »Flusskorrektion« weit über das Großprojekt der Begradigung des Rheins hinaus eine wichtige Rolle. Ebenso die Verkürzung von Fahrzeiten der zu dieser Zeit noch etablierten Postkutschen durch neue Straßenbrücken — dem motorisierten Straßenverkehr sollte der Weg erst später geebnet werden. Als Lehn sein Album im späten 19. Jahrhundert zusammenstellte, hatte sich das Medium der technischen Zeichnung seit Langem konsolidiert. Prinzipiell sind technische Zeichnungen seit der Antike bekannt, aber noch im mittelalterlichen Kathedralenbau spielten sie eine nur untergeordnete Rolle. Die Vielfalt ihrer Nutzung in Zentraleuropa stieg mit der Einführung aus Textillumpen hergestellten Papiers um 1400 — und damit noch vor der Durchsetzung »moderner« perspektivischer Darstellungstechniken. Schließlich war Papier weit billiger als das aus Tierhäuten gefertigte Pergament. Leonardo da Vincis geniale Fertigkeiten auf allen Ebenen der technischen Zeichnung brachten dieses Genre bald darauf zu einem Höhepunkt. Auch für Leonardos Ingenieurskollegen etablierten sich Zeichnungen nun in unterschiedlichsten Funktionen: von der Skizze auf Reisen gesehener Bauten über sorgfältig ausgearbeitete Präsentationszeichnungen für potenzielle Auftraggeber bis zur Illustration technischer Traktate. Als die ersten Ausbildungsstätten für Zivil- und Militäringenieure entstanden, gehörte das Zeichnen immer zum Kernprogramm. Bereits aus den berühmten französischen Ingenieurschulen des 18. Jahrhunderts sind daher ganz ähnliche Bestände wie das spätere Album von Lehn überliefert. Über das hier gezeigte Projekt eines Viaduktes hinaus belegt das Blättern in dem Album, wie drastisch sich manche von (Bau-)Ingenieuren geforderten Fähigkeiten im Lauf der Zeit verändert haben. Tippen und Wischen auf Tastatur und Bildschirm haben längst den wenig fehlertoleranten Umgang mit Pinsel und Feder abgelöst. Steht die Handzeichnung überhaupt noch auf dem Programm der Ingenieurausbildung, dann aufgrund der Hoffnung, dass solch »körperliches« Training auch heute noch spezifische kognitive Fähigkeiten beim Konstruieren fördern mag. So zeigt Lehns Erinnerungsstück, dass sich nicht nur die Technik im Lauf der Zeit verändert, sondern auch das, was man als Wissensgeschichte des Ingenieurberufes bezeichnen kann — und dieses Wissen war und ist damals wie heute geprägt von aktuellen medialen Möglichkeiten ebenso wie von dem individuellen Geschick, diese zu beherrschen. Marcus Popplow

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