Modell der Cayleyschen Fläche dritten Grades, Hersteller: Bartholomeus Hendriks, ca. 42,0 × 32,0 × 27,2 cm, Sperrholz, Textilfäden, Farbe. KIT-Archiv 28508/12. Fotografie: Amadeus Bramsiepe.
»Die Darstellende Geometrie bildet die Grundlage der gesamten graphischen Bildung an der Polytechnischen Schule«. So steht es bereits 1840 im Programm dieser Lehranstalt. Über zwei Jahre wurden damals den Studierenden in aufeinander aufbauenden Kursen die Grundlagen und Fertigkeiten der Darstellenden Geometrie vermittelt. Dieses spezielle Gebiet der Mathematik befasst sich mit den geometrisch-konstruktiven Verfahren von Projektionen dreidimensionaler Objekte auf eine zweidimensionale Darstellungsebene. Dazu dienten auch praktische Kurse, in denen, ausgehend von Aufgabenstellungen in mathematischen Lehrbüchern, Modelle gebaut wurden, um Flächen, Kurven und Schnitte aus den theoretischen Formulierungen heraus räumlich anschaulich zu machen. Das KIT verfügt über eine Sammlung solcher Fadenmodelle aus den 1870er bis 1910er Jahren. Bei einigen davon ließ sich anhand der Beschriftung nachvollziehen, welche Aufgabenstellungen und Lehrbücher dem Modell zugrunde liegen. So wird Christian Wieners Lehrbuch der Darstellenden Geometrie (1884-86) mehrfach herangezogen und auch das Lehrbuch der Darstellenden Geometrie von Karl Rohn (1901). Die Aufgaben, die über das Studium der Darstellenden Geometrie gelöst werden können, hat inzwischen weitgehend der Computer übernommen. Übungen im Studium haben sich darauf verlagert, Programme für das Computer-aided design zu beherrschen und mit ihrer Hilfe die gestellten Konstruktionsaufgaben zu lösen. as, kn
Unter der Anleitung ihres Lehrers Christian Wiener fertigten Studierende an der Polytechnischen Schule in Übungskursen Modelle. Wiener war seit 1852 Professor für Darstellende Geometrie in Karlsruhe. In diesem Fach lernten angehende Ingenieure das Konstruieren von Gebäuden und Maschinen. Im 19. Jahrhundert war es fester Bestandteil der mathematischen Grundausbildung an technischen Bildungsanstalten. Auffällig an den Karlsruher Modellen ist ihr jeweils ganz eigener Stil, der je nach Hersteller in Form und Material variiert. Einige Modelle sind aus Holz gefertigt und mit Fäden bespannt, andere haben einen Metallrahmen. Manche sind filigran gestaltet und erinnern an Jugendstil-Dekors, andere ähneln mit ihren vor allem zweckdienlichen Rahmen eher Tischler-Gesellenstücken. Viele Modelle tragen den Namen ihres Herstellers – und hier kann man das Gendern getrost unterlassen, denn es handelte zu dieser Zeit ausschließlich um männliche Studierende. Seminare zum Anfertigen mathematischer Modelle waren ein typischer Bestandteil technischer Studiengänge im 19. Jahrhundert. Diese Kurse dienten der Übung von geometrischen Grund- und Aufrissverfahren, also der Übertragung eines dreidimensionalen Objekts in die zweidimensionale Zeichnung und umgekehrt. Hierbei kam es zur Verwendung ganz unterschiedlicher Materialien. Manche Modelle wurden in Plastilin geformt und anschließend in Gips gegossen, andere in Holz gedrechselt, wieder andere Modelle wurden in Form von ineinander gesteckten Kartonscheiben gebaut. Jede Materialart bedingte dabei auch ihre eigene Herstellungsweise. Modelle aus Faden mit einem Metall- oder Holzrahmen wurden anhand von Schablonen vorgefertigt. Fadenmodelle wie die in der Karlsruher Sammlung entstanden zuerst in Paris um 1830. Die Idee, Flächen zweiter Ordnung anhand eines Rahmens aus Metall und darin gespannter Seidenfäden darzustellen, stammte von dem Mathematiker Théodore Olivier, Professor für Darstellende Geometrie und Mitbegründer der École Centrale des Arts et Manufactures. Olivier wollte moderne Ingenieure ausbilden, also solche, die es verstanden, Antworten auf die Herausforderungen des industriellen Zeitalters zu finden. Dafür sollten sie mit Materialien arbeiten, die in der Industrie auch vorkamen, zum Beispiel Metall oder auch Glas und Beton. Während in der von Christian Wiener angelegten Sammlung neben Modellen aus Metall und Faden auch solche aus ganz anderen Materialien wie Holz und Gips zu finden sind, spezialisierte sich sein Sohn Hermann Wiener (1857–1939) gänzlich auf Modelle einer bestimmten Herstellungsweise. Hermann Wiener hatte zwei Jahre lang in Karlsruhe bei seinem Vater studiert, die Modellübungen besucht und so gelernt, wie man Flächen zweiter Ordnung räumlich darstellt. Dafür verwendete er ausschließlich Messingdraht und Seidenfäden. Auch diese Modelle aus Draht und Faden, die bis in die 1910er Jahre hinein entstanden, galten als »modern«, weil sie sich vom im Modellbau sonst üblichen, aber nun als überholt geltenden Material Gips deutlich unterschieden. Fadenmodelle können also in doppelter Hinsicht als modern aufgefasst werden. Einerseits im Hinblick auf die neuen Herausforderungen einer industriellen Moderne und andererseits aus ästhetisch materieller Sicht, aus der ein Material (Draht oder Metall) ein anderes (Gips, Karton) aufgrund neuer Vorstellungen von Ästhetik und Funktion ablöste. Hermann Wiener erachtete Gips als unzulänglich, weil dieser eine geometrische Fläche zu ungenau wiedergäbe. Ein Modell müsse einfach und übersichtlich sein — zwei Eigenschaften, die sich mittels Metall und Faden besonders gut umsetzen ließen. Die Möglichkeit, die mathematischen Eigenschaften eines Modells anhand spezifischer Materialien auszudrücken, ist dreidimensionalen Modellen eigen. Sie kann nicht im Computer realisiert werden, und sie macht den Wert mathematischer Sammlungen auch heute noch aus. Anja Sattelmacher