Die Klolektüre, Januar 2022, Nr. 1. KIT-Archiv 28005/146.
Studierende üben Kritik an ihrer Universität und ihrer politischen Umwelt. Ohne dieses rollentypische Verhalten wäre das geistige Leben jeder Hochschule ärmer, und es würde an Anstößen fehlen, bestehende Verhältnisse zu hinterfragen. Natürlich macht diese Kritik nicht Halt vor der Bewertung der Geschichte der Institution und der ihr zugehörigen Personen. 2022 erschien in der anonym am KIT erscheinenden Flugblattreihe Klolektüre eine Kritik an dem Informatikpionier Karl Steinbuch und der damals bestehenden Benennung des Rechenzentrums am KIT nach ihm. Das Blatt ist in der diesem Format eigenen Drastik gehalten. Die einleitend in allen Nummern der Klolektüre gebrauchten Worte »Scheiß auf …« erscheinen angewandt auf einen Menschen als Grenzüberschreitung. Zwar bezieht sich die Klolektüre auf jüngste Forschungsergebnisse, doch unterlaufen dabei auch Fehler. So ist es den Archivquellen nicht zu entnehmen, dass Steinbuch, wie im Flugblatt behauptet, als Soldat im Zweiten Weltkrieg eine Kriegsgefangene erschießen ließ. Auch kann die Benennung des Rechenzentrums nach Steinbuch im Jahr 2008 jedenfalls nicht »in vollem Wissen« um Steinbuchs Wirken in der NS-Zeit erfolgt sein, denn die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die das Flugblatt verwertet, wurden erst Jahre später publiziert. Ein anderer Teil der hier erhobenen Vorwürfe ist hingegen nachvollziehbar belegt. Die zu Steinbuchs Biografie angestellten Forschungen gaben schließlich den Anstoß, das Rechenzentrum des KIT ab dem Jahr 2024 nicht mehr nach ihm zu benennen. Die hinter der Klolektüre stehenden Personen erhöhten mit ihrer Aktion die Dringlichkeit einer Stellungnahme durch das KIT. kn
Die Klolektüre, die eine Umbenennung des seinerzeit als Steinbuch Center for Computing firmierenden Rechenzentrums am KIT fordert, ist der Gattung Flugblatt/Flugschrift zuzuordnen. Bereits in dieser Bezeichnung zeigen sich die wesentlichen Merkmale der Gattung: schnelle, unkontrollierte und zahlreiche Verbreitung, Aktualität und Flüchtigkeit und doch — da ein Druckerzeugnis — archivierbarer und bleibender Diskursbeitrag. Das vorliegende Flugblatt wurde anonym publiziert. Es darf angenommen werden, dass es dem studentischen Milieu entstammt, zumal es in einer Reihe erschienen ist, die mehrfach studentische Themen aufgreift, zum Beispiel die Verfügbarkeit von Wohnheimplätzen oder studentische Fachschaften. Dabei ist es einem politisch linksgerichteten Kontext zuzuordnen. Weitere »Gegner« sind etwa der Bundeskanzler Olaf Scholz oder die Autorin Joanne K. Rowling. Das Motiv linker und linksradikaler Agitation findet sich in studentischen Flugblättern spätestens seit 1968. Dabei lebt das Flugblatt vom Skandalon. Entweder ist es selbst der Skandal, so etwa in den 1970er Jahren durch anonyme Zustimmung zum RAF-Terror, oder es sucht Wirkung durch Skandalisierung. Das hier als Ausstellungsobjekt gezeigte Flugblatt enthält ein doppeltes Skandalon. Trotz der anstößigen Fäkalsprache disqualifiziert sich der anonyme Absender nicht aus dem Dialog. Denn schwerer wiegt das inhaltliche Skandalon: die NS-Vergangenheit Karl Steinbuchs, nach dem das Rechenzentrum benannt wurde — er war Mitglied von NSDAP und SS und aktiv beteiligt am nationalsozialistischen Vernichtungskrieg. Das Flugblatt basiert auf geschichtswissenschaftlicher Forschung — ohne Kenntlichmachung. Eine solche hätte gezeigt, dass ein Historiker als KIT-Mitarbeiter unterstützt durch den Direktor des Departments für Geschichte und das KIT-Archiv seine Forschung zu Steinbuch ausführen und – wenig skandalös — im Jahr 2020 publizieren konnte. Nach dem Flugblatt stand die Beratung der Hochschulgremien und schließlich der Entschluss, das Rechenzentrum umzubenennen. Es ist ein später Sieg der Gegner Steinbuchs, derer es über Jahrzehnte viele gab. 159 Schon in den 1970er Jahren zog der exponierte Professor Angriffe von Studierenden auf sich. Das Objekt 100 zeigt über die Causa Steinbuch hinaus, dass das Erinnern an einer Hochschule einem laufenden Wandel unterliegt und stets neu ausgehandelt wird. Es wird zudem deutlich, dass Akteure aller Statusgruppen Einfluss geltend machen können, wenn es darum geht, Antworten auf die Frage zu finden, wie sich das KIT zu seiner Geschichte stellt. Anton F. Guhl