Spruchkammerbescheid für Emil Kirschbaum, 23.07.1947, Seite 1. KIT-Archiv 21011/209.
Der dem Professor für Apparatebau Emil Kirschbaum (1900–1970) erteilte Bescheid ist ein typisches Beispiel für den Ausgang der Entnazifizierung im Hochschulbereich. Kirschbaum wurde als Mitläufer eingestuft, nachdem er dargelegt hatte, »dass er nicht mehr als nominell am NS teilgenommen und ihn nicht mehr als höchstens unwesentlich unterstützt habe«. Nach dem Ende des NS-Staates sollten Entnazifizierungsverfahren bewirken, dass der Neuaufbau ohne Einfluss von Nationalsozialisten erfolgte. In millionenfach verteilten Fragebögen hatten die Befragten zu erklären, welchen nationalsozialistischen Organisationen sie angehört hatten. Die zur Entnazifizierung eingesetzten Spruchkammern waren Laiengerichte. Ihr Vorgehen war in Grundzügen einem Strafverfahren ähnlich. Ein Ankläger sammelte belastendes Material, der oder die Betroffene hatte Gelegenheit, sich zu verteidigen und konnte dafür Entlastungszeugen aufbieten. Der Ausgang war wesentlich davon abhängig, was die Fürsprechenden bezeugten. Somit konnte schon die Qualität des persönlichen Netzwerks entscheidend für den Ausgang des Verfahrens sein. Für sich genommen lassen Akten von Spruchkammerverfahren deshalb oft kein Urteil über die Angemessenheit der getroffenen Entscheidung zu. kn
Der Blick in die Entnazifizierungsakten von Hochschullehrern ruft oft Kopfschütteln hervor. Obwohl die historische Forschung gezeigt hat, dass die deutschen Hochschulen und die an ihnen tätigen Professoren sich auf vielfältige Weise kompromittiert hatten, geben die Akten ein scheinbar ganz anderes Bild. Auch den bekanntesten Nationalsozialisten gelang es, Leumundszeugnisse beizubringen — zum Teil sehr glaubhafte. Sie berichten von Zwangssituationen, denen sich Professoren ausgesetzt sahen, nur widerwillig zugestandenen Eintritten in die NSDAP und die weiteren NS-Organisationen, von der Ablehnung des Systems in alltäglichen Gesten oder vertraulichen Gesprächen und dem Einsatz für Verfolgte des Regimes. Bei Professoren war zudem das Motiv zentral, stets wissenschaftlich gehandelt zu haben, ohne politische Beeinflussung des eigenen Instituts. Auch der Karlsruher Professor für Apparatebau Emil Kirschbaum wies Leumundszeugnisse vor. Diese wurden umgangssprachlich schnell »Persilscheine« genannt, denn vielen Deutschen gelang es damit, noch so braune Flecken von ihren vermeintlich weißen Westen zu entfernen. In den Spruchkammern, die der Historiker Lutz Niethammer begriffsbildend als »Mitläuferfabrik« charakterisiert hat, wurde mithilfe dieser Zeugenaussagen das Millionenheer von NSDAP-Mitgliedern zu Unbeteiligten. Kirschbaum galt aufgrund entsprechender Persilscheine durch Spruch vom 23. Juli 1947 als »Mitläufer« — trotz vormaliger Mitgliedschaften in NSDAP und NS-Dozentenbund sowie einer zumindest angenommenen Tätigkeit als Mitarbeiter des Dozentenführers. Das verzerrte Bild, das die Spruchkammerakten zeichnen, führt dazu, dass die Entnazifizierung gemeinhin als gescheitert angesehen wird. Diese Bewertung ist nicht verkehrt: Kein politischer Prozess konnte den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus heilen. Keine Strafe konnte eine Wiedergutmachung für Unrecht und Versagen erreichen. Die Entnazifizierung wird nicht nur rückblickend kritisiert. Bereits im zeitgenössischen Urteil stieß der Prozess auf vehemente Ablehnung. Der Ruf nach einem Schlussstrich wurde früh laut, und auch die Besatzungsmächte hatten im erstarkenden Kalten Krieg rasch andere Prioritäten. Und doch hatte die Entnazifizierung eine konstruktive Seite. Den Deutschen und mit ihnen den Professoren und Hochschulen wurde eine Distanzierung vom Nationalsozialismus ermöglicht, die zu einem guten Teil auf einer unaufrichtigen Umdeutung der Vergangenheit beruhte. Zugleich wurde auch das »Mitlaufen« von Emil Kirschbaum eindeutig als »politisches Verschulden« festgehalten und bestraft. Schließlich — und das wird gelegentlich vergessen — schaltete die Entnazifizierung einzelne NS-Protagonisten wie den nationalsozialistischen Rektor der Technischen Hochschule Karlsruhe Rudolf Weigel tatsächlich aus. Die oft gescholtene Mitläuferfabrik leistete in dieser Ambivalenz einen Anteil, dass an den Hochschulen und Universitäten nationalsozialistisches Gedankengut nach 1945 nicht mehr Fuß fassen konnte und eine Rückkehr in die internationale scientific community Schritt um Schritt möglich wurde. Anton F. Guhl