Polarisationsmikroskop aus dem Nachlass von Otto Lehmann, Hersteller: Voigt & Hochgesang/Göttingen und Seibert/Wetzlar, ca. 1890, 30,0 × 10,0 × 16,0 cm, Messing u.a. KIT-Archiv 27059/160.
Das Mikroskop aus dem Nachlass des Physikers Otto Lehmann (1855–1922) war einmal der Kern einer umfangreicheren Forschungsumgebung an der Technischen Hochschule Karlsruhe. Es diente zur grundlegenden Erforschung der Flüssigkristalle. Ein Brief des Kollegen Friedrich Reinitzer hatte Lehmann 1888 mit der ersten Beobachtung flüssiger Kristalle konfrontiert. Das Phänomen faszinierte ihn so sehr, dass er sein weiteres wissenschaftliches Leben der Pionierarbeit an diesem Gegenstand widmete. Zu Lehmanns Zeit hatte das von ihm verwendete Wort Flüssigkristall einen regelrechten Provokationswert, denn es fasste in sich den Widerspruch zwischen den Vorstellungen vom Kristall als einem festen Körper und der Flüssigkeit als einem beweglichen Stoff. Lehmann riskierte seinen wissenschaftlichen Ruf, um der zunächst ungläubigen Fachwelt zu vermitteln, dass manche Stoffe zwischen dem festen und dem flüssigen Aggregatzustand eine flüssig-kristalline Phase haben, in der sie fließen und gleichzeitig über regelhafte, kristallähnliche Strukturen verfügen. Die Möglichkeit, optische Eigenschaften von Flüssigkristallen mit elektrischer Spannung zu steuern und auf dieser Grundlage Bildschirme herzustellen, war zu Lehmanns Zeit aber noch nicht absehbar. Lehmann ging es vor allem darum, Stoffe mit Flüssigkristalleigenschaften zu erkennen, ihr Verhalten zu beobachten und es für die Wissenschaft wie auch ein breiteres Publikum sichtbar zu machen. Dazu verwendete er Mikroskope mit Drehteller, um das optische Verhalten der Präparate im polarisierten Licht zu untersuchen. Für seine Arbeit verwendete Lehmann auch ausgefeilte Heizvorrichtungen, mit denen sich die Präparate kontrolliert erhitzen und wieder abkühlen ließen. Die für seine mikroskopische Arbeit nötigen Spezialgeräte stellte Lehmann teilweise selbst her. Ebenso sorgte er für die fotografische Dokumentation der Präparate. Mit seiner Arbeit vereinigte Lehmann die heute oft getrennten Aufgaben der wissenschaftlichen Konzeption, der Laborarbeit und des Wissenschaftsjournalismus. kn
… so kurz und knapp hat Horst Stegemeyer den verschlungenen, hindernisreichen Weg der flüssigen Kristalle zwischen dem Ausgangspunkt, nämlich den sorgfältigen Beobachtungen des Botanikers Friedrich Reinitzer, und dem aktuellen Stand der Bildschirmtechnik zusammengefasst. Friedrich Reinitzer hatte zwei Schmelzpunkte des Cholesterylbenzoats festgestellt, einem Derivat des Cholesterins, das er in der Karotte entdeckt und dessen temperaturabhängige Farberscheinungen er im polarisierten Licht beobachtet hatte. Um diesen Befund eingehender zu klären, wandte Reinitzer sich im März 1888 an Otto Lehmann, damals noch Privatdozent in Aachen, mit der Bitte, die ihm zugesandten Substanzproben mithilfe seiner Kristallisationsmikroskope »gütigst etwas näher untersuchen zu wollen«. Otto Lehmann wurde schon als Schüler von seinem Vater mit der Mikroskopie vertraut gemacht und hatte eine vertiefte Ausbildung im Bereich der Kristallografie erhalten, unter anderem an der Universität Straßburg bei dem Mineralogen Paul Heinrich von Groth. Schon 1872 beschreibt Lehmann in seiner Dissertation, wie er sein Mikroskop an die von ihm durchgeführten Beobachtungen von Kristallisationsphänomenen anpassen konnte, indem er einen Gasbrenner zum Erhitzen und einen gerichteten Luftstrom zum Kühlen des Präparats hinzufügte. Wie aus seinen zahlreichen Publikationen zu entnehmen ist, war Lehman im Jahr 1888 ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der mikroskopischen Kristallografie, hatte die notwendige Erfahrung und vor allem auch das erforderliche Instrumentarium. Nach seinem Umzug von Aachen nach Dresden und von dort, der Berufung als Nachfolger von Heinrich Hertz nachkommend, nach Karlsruhe veröffentlichte Lehmann im August 1889 die Ergebnisse seiner Untersuchungen an den Proben von Reinitzer. Er bestätigte dessen Beobachtungen und war überzeugt, im Cholesterylbenzoat die Eigenschaften einer Flüssigkeit mit der eines Kristalls verbunden zu sehen. Trotz aller Ratlosigkeit hinsichtlich einer Erklärung bezeichnete er diesen Zustand als »fliessende Krystalle«. Nachdem Lehmann nachgewiesen hatte, dass die beobachteten Phänomene (mehrere Schmelzpunkte, optische Anisotropien im flüssigen Zustand) nicht auf Verunreinigungen der untersuchten Substanzen beruhen, sondern dass es sich um besondere Zustände der Materie handelt (nach Georges Friedel: Mesophasen), verteidigte er diese Erkenntnis energisch und eloquent über viele Jahre gegen Zweifler und Spötter. Ab 1908 bemühte sich Lehmann, seine Untersuchungsergebnisse zu flüssigen Kristallen über Deutschland hinaus zu verbreiten. Im Jahr 1909 folgte er einer Einladung an die Sorbonne in Paris, um dort ein langes, von Experimenten begleitetes Seminar zu halten. Dieser Besuch war ein großer Erfolg und begründete die französische Schule der Wissenschaft der flüssigen Kristalle mit Charles Mauguin, Georges Friedel und François Grandjean als Pionieren. Zur Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung bot die Firma Merckab 1904 in ihrem Verkaufsprogramm Substanzen mit flüssigkristallinen Phasen an. In Ermangelung von Anwendungsmöglichkeiten erlosch in den 1930er Jahren das Interesse an Flüssigkristallen, bis Richard Williams und George Heilmeier in den 1960er Jahren in den USA erste elektrisch gesteuerte Anzeigen realisieren konnten. 1962 wurde von Williams in den Laboren der Radio Corporation of America in Princeton ein elektro-optischer Streueffekt in Flüssigkristallen entdeckt, der bei seinem Kollegen Heilmeier und ab 1967 im Unternehmen Hoffnungen auf seine kommerzielle Nutzung als Anzeigeelement im großen Maßstab und sogar auf den Ersatz der in Fernsehgeräten verwendeten Kathodenstrahlröhre weckte. Mit ähnlicher Begeisterung verkündete ein deutscher Hersteller von Chemikalien im Jahr 1969 nach der Entwicklung eines bei Raumtemperatur flüssigkristallinen Materials, dass »flache Fernsehbildschirme bald an den Nagel gehängt werden können«. Wie wir heute wissen, war in beiden Fällen der Wunsch der Vater des Gedankens. Jedoch sollten die Naturgesetze den betroffenen Ingenieurinnen und Ingenieuren für mindestens weitere 30 Jahre unterschiedlichste Herausforderungen bescheren. In dieser Zeit wurden viele Ideen in Prototypen umgesetzt, patentiert und erprobt, es blieben jedoch wenige für die Praxis taugliche Lösungen übrig. Der nächste wichtige Schritt auf den Weg zur Flüssigkristallanzeige (liquid crystal display, LCD) mit geringer Leistungsaufnahme und hohem Kontrast gelang in der Schweiz in der Forschungsabteilung von Hoffmann-LaRoche in Basel. Hier realisierte Wolfgang Helfrich, durch eine Veröffentlichung von Charles Maugin aus dem Jahr 1911 inspiriert, zusammen mit Martin Schadt die nematische Drehzelle (twisted nematic LCD, TN-LCD). Beide meldeten die TN-LCD am 4. Dezember 1970 zum Patent an. In der Folgezeit entwickelte Schadt systematisch neue flüssigkristalline Substanzen mit geeigneten Eigenschaften, insbesondere mit der erforderlichen Reinheit, und verbesserte damit die Leistungsfähigkeit seiner Entwicklung. Die geringe Leistungsaufnahme von TN-Zellen und deren guter Kontrast erregten schnell das Interesse einiger Hersteller von Taschenrechnern und Armbanduhren aus Japan, und die ersten Lizenzen für die TN-Zelle wurden von Hoffmann-LaRoche bereits im Jahr 1974 vergeben. 1985 stellten Terry Scheffer und Jürgen Nehring bei Brown-Boveri in der Schweiz den supertwisted birefringence effect vor, mit dem sich höhere Multiplexraten erreichen ließen und somit auch Bildschirme mit einer Pixelmatrix von 640 × 480 Bildpunkten angesteuert werden konnten. Damit ließen sich erstmalig tragbare Rechner realisieren. Dem Entwicklungstand der Digitalelektronik zu dieser Zeit standen damit endlich die entsprechenden visuellen Ausgabeeinheiten zur Seite. Anfang der 1990er Jahre waren die ersten Flüssigkristallbildschirme mit Farbdarstellung und Ansteuerung durch Dünnfilmtransistoren aus amorphem Silizium verfügbar, und Ende der 1990er Jahre begann ihr Einzug in Büros und an sonstigen Arbeitsplätzen. Im Jahr 2008 wurden weltweit erstmals so viele Fernsehgeräte mit Flüssigkristallbildschirmen verkauft wie solche mit Kathodenstrahl-Bildröhren. Seitdem haben großformatige flache Fernsehbildschirme tatsächlich ihren Platz an der Wand gefunden. 2022 lag das Umsatzvolumen für alle elektrooptischen Anzeigen weltweit bei etwa 160 Milliarden US-Dollar, wovon Flüssigkristallanzeigen mehr als 90 Prozent ausmachten. Die Verwendungen von Flüssigkristallen in Fenstern mit steuerbarer Lichtdurchlässigkeit, in elektrisch steuerbaren optischen Linsen, in Elementen zur optischen Datenverarbeitung und in steuerbaren Bauelementen für den Mikrowellenbereich lassen auch in Zukunft noch einige Errungenschaften erwarten. Michael E. Becker, Henning Wöhler
Das Kristallisationsmikroskop mit Temperier- und Polarisationseinrichtung, dessen Leistungsfähigkeit Otto Lehmann über Jahre konsequent verbessert hatte, war das einzige Instrument, das zur Untersuchung der Phänomene, die Reinitzer am Cholesterylbenzoat beobachtet hatte, in idealer Weise geeignet war und zur Verfügung stand. Michael E. Becker